Mercedes-Benz 300 SLR "Uhlenhaut-Coupé", 1955

Mercedes-Benz 300 SLR "Uhlenhaut-Coupé", 1955
Closed version of the 300 SLR which was never used for racing

Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte das 300 SLR Coupé Anfang August 1955, als es von Rudolf Uhlenhaut beim Training zum Großen Preis von Schweden in Kristianstad gefahren wurde. Fachwelt und Öffentlichkeit nahmen es dementsprechend als geschlossene Variante des offenen Rennsportwagens 300 SLR wahr, der zu diesem Zeitpunkt bereits einen spektakulären Doppelsieg bei der Mille Miglia eingefahren hatte und das Rennen in Schweden ebenfalls mit einem Doppelsieg beendete.

Tatsächlich hatten die Karosseriekonstrukteure in Sindelfingen das traumhaft schöne Flügeltüren-Coupé aber bereits im November 1953 als erste Variante des 300 SLR entworfen. Die offene Ausführung folgte sieben Monate später im Juni 1954. Der erste Start des neuen Rennsportwagens war eigentlich für die Anfang Mai veranstaltete Mille Miglia 1954 vorgesehen, und im Juni sollte ein Einsatz bei den 24 Stunden von Le Mans folgen. Die bis auf Feinabstimmung und Erprobung praktisch abgeschlossene Entwicklung wurde dann jedoch im Frühjahr 1954 zurückgestellt, um alle verfügbaren Kapazitäten der Rennabteilung für das Engagement in der Formel-1-Weltmeisterschaft mit dem ebenfalls vollkommen neu konstruierten W 196 R zu nutzen. Ende März machte Daimler-Benz diese Entscheidung in einer Pressemitteilung öffentlich.

So erhielt der 300 SLR seinen letzten Schliff erst ab dem Spätsommer 1954 nach dem erfolgreichen Anlauf der Formel-1-Saison. In der Zwischenzeit hatten die von Rennleiter Alfred Neubauer befragten Fahrer sich vor allem wegen der erwarteten Lärmentwicklung im Cockpit mehrheitlich für einen offenen Rennwagen anstelle des ursprünglich vorgesehenen Coupés ausgesprochen. Bei der Sportwagen-Weltmeisterschaft 1955, die für Daimler-Benz mit der am 30. April und 1. Mai in Bescia gestarteten Mille Miglia begann, trat dementsprechend zunächst nur die offene Version in Erscheinung.

Im Hinblick auf eine Teilnahme an der für Ende November 1955 angesetzten Carrera Panamericana in Mexiko und auf die Saison 1956, in der Daimler-Benz sein Engagement in der Sportwagen-WM verstärken wollte, wurde im Sommer 1955 die Coupé-Variante reaktiviert und in zwei Exemplaren fertiggestellt. Speziell bei Langstreckenrennen wollte man den Fahrern die Möglichkeit geben, je nach persönlichen Vorlieben zwischen der offenen und geschlossenen Variante zu wählen. Zum Renneinsatz kamen die beiden Fahrzeuge dennoch nicht, nachdem der Daimler-Benz Vorstand am 11. Oktober 1955 den Ausstieg aus dem Motorsport beschlossen hatte. Öffentlich gemacht wurde dieser Beschluss am 22. Oktober anlässlich der Siegesfeier im Werk Untertürkheim. 

So blieben die Motorsporteinsätze des 300 SLR Coupés auf die Trainings- und Testfahrten im Rahmen des Großen Preises von Schweden, auf dem Motodrom in Monza, bei der Tourist Trophy in Irland und der Targa Florio beschränkt. Dabei legte das erste fertiggestellte Coupé mehr als 10.000 Kilometer zurück; am Steuer saß überwiegend Rudolf Uhlenhaut; auf der Fahrt zur Tourist Trophy in Irland erhielt Wolfgang Graf Berghe von Trips, ein Neuzugang im Mercedes-Benz Rennteam, die Gelegenheit, sich mit dem 300 SLR vertraut zu machen. Mit einem dritten Platz, den er im Team mit André Simon auf der offenen Version erreichte, trug der talentierte Nachwuchsfahrer zum Mercedes-Benz Dreifachsieg bei diesem Rennen bei.

Dass das 300 SLR Coupé nach Saisonabschluss dennoch keinen Staub ansetzte, lag vor allem an Rudolf Uhlenhaut, der als Leiter der Versuchsabteilung auch maßgeblich an der Feinabstimmung des Rennsportwagens beteiligt war. Uhlenhaut, der als exzellenter Fahrer galt und es meisterhaft verstand, die Silberpfeile im Renntempo über die Strecke zu jagen, hatte bereits mit seinen ausgedehnten Fahrten quer durch Europa sehr eindrucksvoll die Zuverlässigkeit und Alltagstauglichkeit des hochkarätigen 300 PS starken Rennsportwagens demonstriert. 

So lag es nahe, den spektakulären Rennsportwagen auch der Fachpresse zur ausgiebigen Alltagserprobung zur Verfügung zu stellen. Im Juli 1956 unterzogen Journalisten der schweizerischen "Automobil Revue", allen voran ihr Chefredakteur Robert Braunschweig das 300 SLR Coupé einem Langsteckentest über insgesamt 3.500 Kilometer. Ein Zugeständnis an den Straßenverkehr war der riesige Auspuffschalldämpfer auf der rechten Seite des Fahrzeugs, der die ohrenbetäubende Geräuschkulisse auf ein erträglicheres Maß reduzierte. Anfang Juli und Mitte September wurden mit beiden Exemplaren des Coupés in Beisein von Rudolf Uhlenhaut Hochgeschwindigkeitstestfahrten und Höchstgeschwindigkeitsmessungen durchgeführt. In seinem Testbericht, veröffentlicht in der "Automobil Revue" vom 12. Dezember 1956, äußert sich der Tester geradezu enthusiastisch über die Qualitäten des 300 SLR: 

"Wir fahren in einem Wagen, der [...] die Fahrzeuge des übrigen Verkehrs in gut einer Sekunde überholt, in dem 200 km/h auf verkehrsarmer Autobahn ein Bummeltempo sind, ein Wagen, dessen Kurvensicherheit den Gesetzen der Fliehkraft zu spotten scheint, ein Wagen, der bei 160 km/h weniger Benzin braucht als manche Limousine bei bescheidenerem Tempo, aber auch ein Wagen, den man nie kaufen kann und den kein Durchschnittsfahrer auch je kaufen würde. [...] Schon früher gab es Fahrzeuge mit ähnlicher oder sogar höherer Fahrleistung. Es waren dies Kompressorrennwagen, die auf 100 km ihre 150 Liter Treibstoff fraßen, die nur von einigen Spitzenfahrern gemeistert werden konnten und die nach jedem Rennen kleinere oder größere Instandsetzungsarbeiten verlangten. Der 300 SLR hat nichts von der Empfindlichkeit seiner Vorfahren. Unser Testwagen fuhr im Bummeltempo durch Städte und Dörfer in der Schweiz, in Deutschland und in Italien, stürmte mit Vollgas steile Bergstraßen hinan, ließ schärfste Beschleunigungs- und Bremsmessungen auf der Piste von Monza über sich ergehen, legte lange Autobahnstrecken mit Durchschnitten von gegen 200 km/h zurück, erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 284 km/h, einmal sogar von 290 km/h, und diente dazwischen als reines Transportmittel, ohne daß auch nur die geringste Panne aufgetreten wäre. Daß die Daimler-Benz volles Vertrauen in die Dauerhaftigkeit ihres gegenwärtig stärksten Typs besitzt, bewies schon ihre Bereitwilligkeit, der "AR" einen SLR für einen Langstreckentest zu überlassen. Die 12000 km, die der Tacho bei der Übernahme zeigte und die Rudolf Uhlenhaut bei Fahrten quer durch Europa und bis nach Schweden zurückgelegt hatte, sind ein noch stärkerer Beweis dafür, daß der technisch so ungewöhnliche Wagen, der mit jedem handelsüblichen Superkraftstoff zufrieden ist, eine im Hochleistungsfahrzeugbau ungewöhnliche Zuverlässigkeit verkörpert. [...] Etwas weniger Aufregendes als die Höchstgeschwindigkeitsmessung ließ sich kaum denken. Wir warten an einem Septembermorgen um vier Uhr in der Frühe auf der Autobahn München-Eching, bis die Polizei abgesperrt hat. Erst zwei Anwärmfahrten, dann los. [...] Wie der Wagen bei 290 km/h lief? Schnurgerade, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war unsensationell bis zum Exzess. Denn die Leistung des 300 SLR ist für den Wagen nicht zu hoch, auch nicht für den Fahrer, der sie mit Vernunft auszunützen versteht. Selbst auf unseren schmalen, verstopften Straßen kann man mit einem Wagen von der Leistung und der Sicherheit des 300 SLR unter voller Berücksichtigung der Anstandsregeln Durchschnitte erreichen, die utopisch erscheinen. Die Bedeutung eines solchen Rennsportwagens erschöpft sich weder in seinen Erfolgen noch in der Begeisterung, die er im Freund sportlicher Meisterkonstruktionen erweckt. Er zeigt vielmehr, daß im Automobilbau noch unausgenützte technische Möglichkeiten schlummern." 

Eine bessere Würdigung seiner Produkte kann sich ein Automobilunternehmen wohl kaum wünschen. Das "Uhlenhaut-Coupé", wie der Wagen seit Ende der 1980er-Jahre von Automobilliebhabern genannt wird, gilt als eine der bedeutendsten Ikonen der Marke Mercedes-Benz und darüber hinaus auch als wertvollstes Automobil der Welt. Im Mai 2022 wurde eines der beiden 1955 gebauten Fahrzeuge im Rahmen einer Auktion im Mercedes-Benz Museum für 135 Millionen Euro an einen privaten Bieter veräußert. Der Erlös dient zur Finanzierung des "Mercedes-Benz Fund" – eines weltweiten Stipendienprogramms, mit dem eine neue Generation von Schülern, Schülerinnen und Studierenden ermutigt werden soll, neue Technologien, insbesondere zu Dekarbonisierung und Ressourcenschonung, zu entwickeln. Das zweite Fahrzeug ist seit vielen Jahren im Mercedes-Benz Museum ausgestellt und gehört dort zu den spektakulärsten Exponaten.

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