Mercedes 35 PS Renn- und Tourenwagen, 1900 / 1901

Mercedes 35 PS Renn- und Tourenwagen, 1900 / 1901

Nach dem unbefriedigenden und überdies tragischen Ausgang der Rennwoche von Nizza im März 1900 stellte sich bei der Daimler-Motoren-Gesellschaft die Frage, in welcher Form die Zusammenarbeit mit Jellinek fortgesetzt werden könnte. Die DMG hatte ihren Mitarbeiter Wilhelm Bauer verloren und zweifelte in Anbetracht der offenkundigen Gefahren an der Sinnhaftigkeit einer weiteren Rennteilnahme. Jellinek hingegen war auf publicityträchtige Erfolge im Motorsport als Zugpferd für den gewinnbringenden Automobilabsatz angewiesen. Zudem war er ein überaus wichtiger Geschäftspartner der DMG – hatte er doch bis Ende Februar 1900 bereits 57 Daimler Automobile bestellt.

Der Vorstand der DMG, bestehend aus Chefkonstrukteur Wilhelm Maybach und dem Kaufmännischen Direktor Gustav Vischer, weilte anlässlich der Rennwoche in Nizza und führte mit Jellinek Verhandlungen, bei denen es vor allem um Verkaufspreise und Vertriebsmodalitäten ging. Die Ergebnisse sind in einem dreiseitigen Protokoll zusammengefasst, das bis heute erhalten ist. Das für die Automobilgeschichte wichtigste Resultat der Verhandlungen verbirgt sich darin in einem einzigen unscheinbaren Satz: „Es soll eine neue Motorform hergestellt werden & dieselbe den Namen Daimler-Mercedes führen“. Dies war der Startschuss für die Entwicklung der neuen Mercedes-Wagen und de facto die Geburt der Produktmarke Mercedes.

Nach diesen Verhandlungen wurde Jellinek in noch höherem Maße zur zentralen Figur für das Handeln der DMG. Nachdem er bereits im Februar zehn zweisitzige Rennwagen mit 30-PS-Benzinmotor geordert hatte, bestellte er Mitte April 36 weitere Fahrzeuge und Anfang Juni nochmals 36 Exemplare eines kleineren 8-PS-Modells. Dieses Bestellvolumen entsprach mehr als 50 % der Vorjahresproduktion der DMG. 

Vor diesem Hintergrund widmeten sich Chefentwickler Wilhelm Maybach und sein Motorenkonstrukteur Josef Brauner mit größtem Elan und voller Rückendeckung durch die Geschäftsleitung auch einem neuen Rennwagen-Projekt, das neben den Serienfahrzeugen im Fokus der Entwicklungen stand. Die grundsätzlichen Schwachstellen der Phönix-Wagen wurden bei dem völlig neu erdachten Fahrzeugkonzept Punkt für Punkt eliminiert. Am Ende der Arbeiten stand faktisch ein Paradigmenwechsel in der Automobilkonstruktion, der bis in die heutige Zeit nachwirkt. Statt das neuartige Antriebsaggregat wie den Benzinmotor in ein seit langem etabliertes Fahrzeugkonzept wie die Pferdekutsche einzupassen, hatte man ein von Grund auf neues Konzept entwickelt, das bestmöglich auf den innovativen Antrieb abgestimmt war.

Der von Brauner konstruierte neue Vierzylindermotor wies einen Hubraum von knapp 6 Litern auf und hatte außer der Zylinderzahl mit seinem 5,5 Liter messenden Vorgänger aus dem 23 PS Phönix-Rennwagen so gut wie keine Gemeinsamkeiten. Je zwei Zylinder des neuen Triebwerks waren paarweise mit den Zylinderköpfen zusammengegossen. Das Bohrung-/Hub-Verhältnis fiel deutlich weniger unterquadratisch aus als zuvor. Brauner hatte das Hubmaß zurückgenommen und die Zylinderbohrung vergrößert. Die Graugusskolben waren je nach Belastung in unterschiedlicher Materialstärke ausgeführt – das führte zu einer Reduzierung der oszillierenden Massen. Einen besonderen Beitrag zur Verringerung des Gewichts leistete das einteilige, nun sehr dünnwandig ausgeführte Kurbelgehäuse aus Aluminium.

In erheblichem Maß leistungsfördernd wirkte sich der Abschied von den bis dahin gebräuchlichen ungesteuerten Einlassventilen aus. Diese Technik aus den frühen Pioniertagen ersetzte Brauner durch eine eigene im Motorblock liegende Nockenwelle für die Einlassseite. Er erreichte damit eine wesentlich elastischere Motorcharakteristik, als es bisher möglich war. Als Spitzenleistung standen für das hochmodern konzipierte Vierzylinder-Triebwerk 35 PS/26 kW bei 1000/min zu Buche, und damit eine Literleistung, die im damaligen Wettbewerbsumfeld ihresgleichen suchte.

Maybach war sich darüber im Klaren, dass ein solches Leistungspotenzial dauerhaft nur zu realisieren war, wenn die Motorkühlung ebenfalls verbessert wurde. So stellte er auch hier weitere Überlegungen an und sorgte durch rund 5800 Röhrchen mit quadratischem Querschnitt, die er statt der etwa 2000 Rundröhrchen in seinem neu entwickelten Wasserkühler unterbrachte, für eine wesentliche Erhöhung der Kühlleistung. Die aneinandergereihten Röhrchen erinnerten in ihrer Form an Bienenwaben, und so erhielt der innovative Kühler die Bezeichnung Bienenwabenkühler oder Bienenkorbkühler. Er hatte nicht nur einen erheblich höheren Luftdurchsatz, auch das zwischen den Röhrchen zirkulierende Wasser wurde durch den Kapillareffekt deutlich wirkungsvoller gekühlt. Durch die erhöhte Effizienz konnte Maybach den Wasservorrat des Kühlers von 18 auf 9 Liter halbieren – was eine willkommene Gewichtseinsparung von 9 Kilogramm mit sich brachte. Der neuartige hocheffiziente Kühler war aber nicht nur technisch, sondern auch stilistisch eine Revolution. Durch die harmonische Integration in die Wagenfront dominierte er das Erscheinungsbild des Mercedes 35 PS und wurde zum markenprägenden Merkmal der Mercedes-Automobile.

Wie gewohnt fungierte ein Pressstahlrahmen aus querverstrebten Längsträgern mit U-förmigem Querschnitt als Grundgerüst des Mercedes 35 PS. Um eine niedrigere Einbauhöhe des Triebwerks zu gewährleisten und damit den Fahrzeugschwerpunkt abzusenken, verzichtete Maybach an der Fahrzeugfront auf eine Hilfsrahmenkonstruktion. Stattdessen führte er die beiden Längsträger vorne zusammen und montierte den Vierzylinder direkt auf diesen vorderen Rahmenbereich. 

Auch die Dimensionierung des Radstands folgte nach den beim Phönix-Rennwagen gemachten Erfahrungen neuen Überlegungen. Anstelle der dort verwendeten, extrem kompakten Maße von 1735 mm bzw. 2075 mm in der längeren Version, wies die Neukonstruktion einen Radstand von 2245 mm auf. Der nun deutlich vergrößerte Raum zwischen Vorder- und Hinterachse ermöglichte es Maybach, den Motor ebenso wie die beiden Sitzplätze weiter nach hinten zu rücken. Als Folge wurde die Lenksäule erstmals in einem Automobil deutlich geneigt eingebaut. – sehr viel ausgeprägter als beim Phönix-Rennwagen.

In der Gesamtansicht des ersten Mercedes stachen sofort dessen neue Proportionen ins Auge. Die Silhouette des Wagens fiel deutlich niedriger aus als bisher gewohnt, Motor und Sitzplätze waren im Sinne einer ausgewogenen Gewichtsverteilung völlig anders positioniert als bei allen Konkurrenten, die noch dem Konzept der Kutsche verhaftet waren. Erstmals erschienen die Sitzpositionen von Fahrer und Beifahrer ins Auto integriert anstatt kutschenähnlich darauf. Zudem war es Maybach gelungen, das Gewicht des Wagens zu reduzieren. Mit 1112 kg brachte der neue 35 PS fast 300 kg weniger Gewicht auf die Waage als ein 23 PS Phönix-Rennwagen. Es gab keinen Zweifel: Hier war das weltweit erste Automobil mit eigenständigem Konzept geschaffen worden. Das Zeitalter der motorisierten Kutsche neigte sich damit seinem Ende zu.

Nach der Fertigstellung des ersten Wagens am 22. November 1900 wurde eine längere Probefahrt im Großraum Stuttgart unternommen, in deren Folge ein verwindungssteiferer Rahmen zum Einbau kam. Der Versand dieses ersten Mercedes an Emil Jellinek fand vier Wochen später, am 22. Dezember, statt. Bereits fünf Tage zuvor war bei der DMG beschlossen worden, den neuen Wagen nach den überaus positiven Resultaten der Erprobung in die reguläre Fertigung zu übernehmen.

Nach einem technisch bedingten Ausfall des Wagens bei seinem im Februar 1901 absolvierten Renndebüt im französischen Pau, richteten sich alle Augen auf die Rennwoche von Nizza, die vom 25. bis 29. März anberaumt war. Dort deklassierte DMG-Werksfahrer Wilhelm Werner auf dem 35 PS Rennwagen aus dem Besitz von Baron Henri de Rothschild die versammelte Konkurrenz gleich bei drei völlig unterschiedlichen Wettbewerben. Er siegte am 25. März bei der Langstreckenfahrt Nizza – Salon – Aix – Sénas – Salon – Nizza über 392 Kilometer mit einem Vorsprung von 21 Minuten genauso wie am 28. März beim Sprintrennen in Nizza und am 29. März beim prestigeträchtigen Bergrennen Nizza – La Turbie. Bei diesem gelang ihm eine kaum für möglich gehaltene Steigerung der Durchschnittsgeschwindigkeit auf 51,4 km/h. Als Spitzentempo hatte Werner über den Kilometer mit fliegendem Start 86 km/h erreicht. Die einzigen Wettwerbe in der Woche von Nizza, bei denen der neue Mercedes nur den zweiten Platz belegte, waren die Sprintrennen im Rahmen des Coupe Henri de Rothschild am 28. März, bei denen interessanterweise Léon Serpollet auf einem Dampfwagen siegte.

Bei dieser Summierung spektakulärer Erfolge des Mercedes 35 PS war es kein Wunder, dass der Generalsekretär des französischen Automobilclubs, Paul Meyan in einem Rückblick auf das Motorsportjahr eine Aussage traf, die zugleich einen Weckruf an die einheimischen Automobilfabrikanten darstellte: „Nous sommes entrés dans l’ère Mercédès“ – „Wir sind in die Ära Mercedes eingetreten“. Emil Jellinek hatte unmittelbar nach den Rennerfolgen in Nizza gegenüber Paul Meyan noch vollmundig festgestellt: „Das was Sie da sehen ist nichts im Vergleiche zu dem, was Sie nächstes Jahr sehen werden.“ Mit dieser Einschätzung sollte Monsieur Mercedes ebenso Recht behalten wie Paul Meyan.

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