Mercedes 28/95 PS, 1921

Mercedes 28/95 PS, 1921

Da es deutschen und österreichischen Automobilherstellern in den ersten Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs untersagt war, an bedeutenden internationalen Rennen in Frankreich und Belgien teilzunehmen, richtete sich der Blick der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) nach Kriegsende zunächst auf die Rennsportszenerie in Italien und den USA – Länder, in denen deutsche Fabrikate am Start renommierter Rennveranstaltungen willkommen waren.

Der DMG stand jedoch kein Fahrzeug zur Verfügung, das der noch kurz vor Kriegsbeginn definierten Grand-Prix-Formel mit einem Hubraumlimit von 3 Litern entsprach, und an eine grundlegende Neuentwicklung war unter den in jeder Hinsicht schwierigen Rahmenbedingungen der ersten Nachkriegsjahre nicht zu denken. Als Basis für ein motorsporttaugliches Fahrzeug, das bei Rennen außerhalb der Gültigkeit der Grand-Prix-Formel eingesetzt werden könnte, geriet so der Mercedes 28/95 PS ins Blickfeld.

Das bereits 1914 kurz vor Kriegsausbruch ins Programm genommene Sechszylinder-Modell fungierte zunächst – und auch wieder mit Beginn der Nachkriegsproduktion im Jahr 1920 –als Flaggschiff der Pkw-Palette. Wie schon sein Vorgänger37/95 PS war auch das neue Topmodell mit dem charakteristischen Spitzkühler und außen liegenden, mit Metallschläuchen verkleideten Auspuffrohren ausgestattet – beides Merkmale, die über Jahrzehnte das Erscheinungsbild der exquisitesten Modelle von Mercedes und Mercedes-Benz prägen sollten.

Aber nicht nur optisch wurde der besondere Stellenwert des 28/95 PS deutlich, auch das technische Konzept qualifizierte ihn zu einer automobilen Besonderheit. Bei dem 7,2-Liter-Sechszylinder, der als Antriebsaggregat zum Einsatz kam, handelte es sich um den ersten serienmäßig gebauten Mercedes Pkw-Motor mit oben liegender Nockenwelle und V-förmig hängenden Ventilen. Vorbild dieses kultivierten, mit einer Königswelle als Nockenwellenantrieb ausgestatteten Triebwerks war der Daimler Flugmotor DF 80, der nicht nur im 1912 ausgelobten Kaiserpreis-Wettbewerb um den besten deutschen Flugmotor hinter einem Benz FX den zweiten Platz belegt hatte, sondern auch schon im Grand-Prix-Rennwagen von 1913 zum Einsatz gekommen war.

In den Jahren 1914 und 1915 wurden nur 25 Exemplare des exklusiven Modells produziert; danach kam die Fertigung kriegsbedingt zum Erliegen. Nach Kriegsende gelangte ein konstruktiv modifizierter Motor zum Einbau, der sich für eine rationelle Serienfertigung besser eignete. Die Zylinder waren nun nicht mehr einzeln aus Stahl gedreht, sondern paarweise gegossen. Beibehalten wurden jedoch die ebenfalls paarweise aufgeschweißten stählernen Kühlwassermäntel. Zur weiteren Verbesserung der Laufruhe und der Öldichtigkeit sowie nicht zuletzt zum Zweck der Verschleißreduzierung waren die früher offen liegenden Ventile unter insgesamt drei aus Leichtmetall gefertigten Ventildeckeln verborgen, einem pro Zylinderpaar.

Zur Wiederbelebung des erfolgreichen Motorsport-Engagements beschlossen Paul Daimler und Max Sailer, Letzterer nicht nur als hochtalentierter Rennfahrer, sondern auch als Ingenieur in Diensten der DMG, aus dem immer noch modernen Spitzenmodell einen im Rennsport konkurrenzfähigen Hochleistungs-Tourenwagen zu machen.

Mit seinem großen Erfahrungsschatz nahm Sailer das Projekt selbst in die Hand. Erste und wichtigste Maßnahme war es, den Radstand des Fahrgestells von den 3370 mm des Serientyps auf 3065 mm zu verkürzen, um Handlichkeit und Agilität des Wagens zu verbessern. Zusätzlich wurde der Kühler weiter hinten und tiefer angeordnet und die Sitzposition im Interesse eines möglichst tief liegenden Fahrzeugschwerpunkts abgesenkt; entsprechend lag die Lenksäule des Rennsport-Tourenwagens flacher.

Obwohl gerade mit Blick auf den Motorsporteinsatz das Thema Vierradbremse auch in den frühen 1920er-Jahren noch Gegenstand intensiver Diskussionen war, erkannte Sailer, dass deren Verwendung für einen 1800 kg schweren Wagen auf Basis eines Serienfahrzeugs unumgänglich war. So wurde der 28/95 PS auch an der Vorderachse mit radial verrippten Innenbacken-Trommelbremsen ausgerüstet.

Über das Leistungsvolumen des in seiner konstruktiven Auslegung nun leicht veränderten Sechszylinder-Triebwerks gab es verschiedene Aussagen, die mangels heute noch verfügbarer verbindlicher Messdaten nur schwer zu qualifizieren sind. Die Angaben schwankten zwischen 99 PS/73 kW und 110 PS/81 kW und lagen damit relativ nahe am Serientriebwerk, dem eine Höchstleistung von 90 PS/66 kW bis 95 PS/70 kW zugesprochen wurde. Die Nenndrehzahlen lagen je nach Leistungsangabe zwischen 1800/min und 2000/min – mehr war für den langhubigen 7,2-Liter-Sechszylinder angesichts einer nur vierfach gelagerten Kurbelwelle nicht möglich.

Sailers Umbau des Mercedes-Topmodells zu einem konkurrenzfähigen Wettbewerbsfahrzeug war offenbar so gelungen, dass diese Version als Typ 28/95 PS Sport sogar bereits 1921 Teil des offiziellen Pkw-Programms wurde.

Die ungeahnten sportlichen Qualitäten des Wagens stellte DMG-Werksfahrer Otto Salzer schon im Mai 1921 unter Beweis, als er beim renommierten, bereits zum fünften Mal in der Nähe von Prag ausgetragenen Bergrennen Zbraslav – Jíloviště (Königsaal – Jilowischt) mit 03:39,7 min die absolute Bestzeit erzielte und zugleich einen neuen Streckenrekord aufstellte. Nur vier Tage später, am 29. Mai, folgte bei der Targa Florio auf Sizilien der Höhepunkt der Sportkarriere des Mercedes 28/95 PS. Max Sailer, der den Wagen, wie seinerzeit üblich, auf eigener Achse an den Startort gefahren hatte, gelang es bei diesem für Mensch und Maschine extrem strapaziösen Rennen über fast siebeneinhalb Stunden, mit nur rund zwei Minuten Rückstand auf den Sieger Platz 2 in der Gesamtwertung zu belegen. Dabei musste er sich härtester Konkurrenz der versammelten italienischen Spitzenfahrer und Fabrikate wie FIAT, Alfa Romeo und Itala erwehren.

Der zweite Platz im Gesamtklassement ging einher mit dem Sieg in der Klasse der Serienwagen von 6 bis 7,2 Liter Hubraum und damit dem Gewinn des Sonderpreises Coppa Florio.

Die Karriere des Rennsport-Tourenwagens war nach diesem sensationellen Erfolg noch keineswegs zu Ende. Otto Salzer fuhr beim Kurorte-Rennen Karlsbad – Marienbad – Karlsbad im August 1921 die beste Zeit des Tages und gewann drei Ehrenpreise. Acht Monate später, am 2. April 1922, waren Max Sailer und sein Mercedes 28/95 PS wieder auf Sizilien. Das bewährte Sechszylinder-Triebwerk hatte man in Untertürkheim unterdessen mit einem Kompressor versehen, der eine Leistungssteigerung auf 140 PS/103 kW bewirkte. Seit Herbst 1919 war bei der DMG die aus der Flugmotorenentwicklung stammende Technik zur mechanischen Aufladung von Automobilmotoren erprobt worden und besaß Ende 1921 die Reife, bei ersten Rennmotoren eingesetzt zu werden.

Bei dem im Typ 28/95 PS eingebauten Ansaugluftverdichter handelte es sich um ein an der linken Motorseite untergebrachtes, senkrecht stehendes Roots-Drehkolbengebläse, das direkt vom Zahnkranz des Schwungrads angetrieben wurde und mit dreifacher Kurbelwellendrehzahl lief. Die komprimierte Ansaugluft wurde über Druckleitungen, die unter den Auspuffkrümmern verliefen, von der linken auf die rechte Motorseite transportiert und dort zwei druckdichten, von der DMG selbst hergestellten Vergasern zugeführt. Indem er das Gaspedal durchtrat, konnte der Fahrer den per Lamellenkupplung zuschaltbaren Kompressor aktivieren.

Zwar gelang es Max Sailer, mit dem deutlich leistungsstärkeren Wagen seine Zeit im Ziel gegenüber dem Vorjahr um etwa fünfzehn Minuten zu verbessern, aber im Gesamtklassement reichte das nur für Rang 6. Das Rennen auf dem äußerst anspruchsvollen Madonie-Kurs war für die mit sechs Einsatzfahrzeugen angetretene Mercedes Werksmannschaft ohnehin etwas unglücklich verlaufen. Hinter Sailer belegte Christian Werner, ebenfalls auf einem 28/95 PS Rennsport-Tourenwagen, allerdings ohne Kompressoraufladung unterwegs, Platz 8. Christian Lautenschlager und Otto Salzer, die auf leicht modifizierten Grand-Prix-Wagen von 1914 gestartet waren, kamen auf den Rängen 10 und 13 ins Ziel. Von den beiden völlig neu entwickelten 1,5-Liter-Rennwagen mit Doppelnockenwellen-Kompressormotor bewältigte nur der von Paul Schleef gesteuerte die Renndistanz von 432 km und platzierte sich als Zwanzigster.

Die Begeisterung der Einheimischen kannte indes keine Grenzen: Conte Giulio Masetti erkämpfte sich auf einem in seinem Besitz befindlichen ehemaligen Mercedes-Werkswagen - einem sieben Jahre alten, inzwischen in der italienischen Rennfarbe Rot lackierten 4,5-Liter-Grand-Prix-Rennwagen, der beim Grand Prix de l’A.C.F. 1914 gestartet war – den Sieg beim seinerzeit wohl strapaziösesten Autorennen der Welt. Nach der eher diskreten Vorstellung der eigenen Einsatzfahrzeuge nahm die Mercedes Mannschaft Masettis Sieg zwar freudig, aber verständlicherweise mit etwas gedämpfter Euphorie auf.

Obwohl die Targa-Florio-Einsätze die bedeutendsten Rennerfolge des Mercedes 28/95 PS bleiben sollten, wurden mit diesem Typ in den Folgejahren noch weitere Siege und Platzierungen erzielt. Zum Beispiel konnte der holländische Mercedes-Vertreter Theo Wiemann 1922 und 1923 das Internationale Kilometerrennen in der Nähe von Scheveningen auf 28/95 PS für sich entscheiden. 1922 verwies er dabei sogar den von Franz Hörner gesteuerten Benz 200 PS in die Schranken.

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