Mercedes-Benz W 196 R, 1955

Mercedes-Benz W 196 R, 1955
Formel-1-Rennwagen für die Saison 1955, Ausführung mit freistehenden Rädern

Für die Saison 1955 hatte die Rennabteilung in Untertürkheim den W 196 R umfassend überarbeitet, wobei die Entwicklungsschwerpunkte einerseits in einer Leistungssteigerung und andererseits in einer Gewichtsreduzierung lagen. Beides diente dazu, die Wettbewerbsfähigkeit des Formel-1-Silberpfeils auch in seiner zweiten Saison sicherzustellen. Die zentrale Maßnahme der Leistungskur, die man dem Motor angedeihen ließ, war die Verwendung eines geraden Saugrohrs an Stelle der zuvor verwendeten gebogenen Variante. Die Leistung konnte dadurch um nahezu 13 % von 257 PS/189 kW auf 290 PS/213 kW bei 8500/min gesteigert werden.

Das gerade Saugrohr benötigte gegenüber der gebogenen Variante des Vorjahres nach oben hin mehr Bauraum: Dies hatte zur Folge, dass die Frontpartie des W 196 R nicht mehr symmetrisch war, sondern auf der rechten Seite eine prominent hervortretende Ausbuchtung für das Saugrohr aufwies, die die Vorderansicht dominierte. Die Ansaugung der Verbrennungsluft war damit vom Kühllufteinlass getrennt und erfolgte über ein Gitter an der Vorderseite dieser Ausbuchtung. Ein umrahmtes Gitternetz hatte auch der große Kühllufteinlass an der Wagenfront erhalten. Es hatte die Aufgabe, das Ansaugen von Laubblättern und Papierfetzen zu verhindern und konnte über einen Zughebel vom Fahrer aufgeklappt werden, wobei die angesammelten Objekte vom Luftstrom weggeblasen wurden. Mit dieser Änderung wollte man thermische Probleme infolge eines blockierten Kühllufteinlasses, wie sie im Vorjahr beim Großen Preis von Spanien aufgetreten waren, wirksam unterbinden.

Bei der 1955er-Version des W 196 R wurde auch mit unterschiedlichen Radständen experimentiert, von denen man sich einerseits eine Gewichtsersparnis und andererseits ein verbessertes Handling versprach. Neben dem bereits 1954 eingesetzten Standardrahmen mit 2350 mm Radstand standen zwei verkürzte Varianten mit 2210 mm und 2150 mm zur Verfügung, die auch allesamt im Renneinsatz erprobt wurden. Bei der Ausführung mit dem kurzen Radstand von 2150 mm, die bei drei Fahrzeugen realisiert wurde, mussten die innenliegenden Bremstrommeln aus Platzgründen nach außen in die Räder versetzt werden; darüber hinaus gab es bei dieser Variante zwei unterschiedliche Einbaupositionen für den Motor. Durch die Radstandsverkürzung war der Motor bezogen auf die Vorderachsmitte um 60 mm weiter nach vorn gerutscht, bei einem der Fahrzeuge hatte man den Motor jedoch nochmals um weitere 60 mm nach vorne versetzt.

Mit dem Großen Preis von Argentinien fand das erste Rennen im Kalender der Weltmeisterschaft bereits Mitte Januar 1955 statt. Es ging als „Hitzeschlacht von Buenos Aires“ in die Geschichte ein. Fangio gehörte zu den wenigen Fahrern, die das über drei Stunden gehende Rennen ganz allein ohne Ablösung beendeten. Fangio gewann das Rennen auf einem klassischen Monoposto mit freistehenden Rädern in der Variante mit mittlerem Radstand, die hier erstmals zum Einsatz kam. 14 Tage später fand erneut ein Rennen in Argentinien statt: der formelfrei ausgeschriebene Große Preis von Buenos Aires. Das Mercedes-Benz Team war bestens vorbereitet und setzte neben einem von Hans Herrmann gesteuerten 2,5-Liter-Formel-1-Rennwagen auch drei W 196 R ein, die mit dem 3-Liter-Motor des Rennsportwagens 300 SLR bestückt waren. Fangio gewann auch dieses Rennen, Stirling Moss – der britische Neuzugang im Mercedes-Benz Team – und Karl Kling fuhren auf die Plätze 2 und 4.

Beim ersten Saisonrennen in Europa, dem Großen Preis von Europa in Monaco, ging am 22. Mai zum ersten Mal die Variante mit kurzem Radstand an den Start. Fangio und Moss hatten sich für diese Variante entschieden, während Hans Herrmann und der für einige Rennen verpflichtete Franzose André Simon einen Wagen mit mittlerem Radstand wählten. Diesmal war das Glück dem Team aus Untertürkheim nicht hold: Hans Herrmann erlitt beim Training einen schweren Unfall, und die anderen drei Wagen fielen mit kleinen aber folgenreichen Defekten aus.

Danach wendete sich das Blatt: Die vier verbleibenden Rennen der Formel-1-Saison – die Großen Preise von Belgien, den Niederlanden, Großbritannien und Italien – endeten allesamt mit Doppelsiegen für Mercedes-Benz, bei denen Fangio das Rennen in der Regel vor Moss beendete. Beim Großen Preis von Großbritannien fuhren die Silberpfeile sogar einen Vierfachsieg ein, angeführt diesmal von Stirling Moss mit Fangio, Kling und Piero Taruffi auf den Plätzen 2 bis 4. Beim Großen Preis der Niederlande fuhr Fangio zum ersten Mal die Variante mit kurzem Radstand zum Sieg.

Am Ende der Saison war Fangio Weltmeister – zum zweiten Mal auf Mercedes-Benz und zum dritten Mal in seiner Laufbahn. Mercedes-Benz war es gelungen, an die Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen und mit einem vollkommen neu konstruierten Rennwagen gleich zweimal die Weltmeisterschaft zu erringen. Eine dritte Saison sollte es für den erfolgreichen W 196 R allerdings nicht geben. Bereits im Frühjahr 1955 hatte der Vorstand beschlossen, das Formel-1-Engagement nach Saisonende einzustellen und sich künftig auf Sportwagenrennen zu konzentrieren. Im Oktober 1955, auf dem Höhepunkt des Erfolgs, fiel dann die unerwartete Entscheidung, 1956 auch von einer Beteiligung an der Sportwagen-Weltmeisterschaft abzusehen.

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