Mercedes-Benz 300 SLR (W 196 S), 1955

Mercedes-Benz 300 SLR (W 196 S), 1955
Rennsportwagen auf der Basis des 2,5-l-Formel-1-Wagens

Parallel zum grundlegend neu konstruierten Formel-1-Rennwagen W 196 R entwickelte Mercedes-Benz ab Herbst 1953 einen Rennsportwagen zur Teilnahme an der seit 1953 ausgetragenen Sportwagen-Weltmeisterschaft. Technisch waren beide Fahrzeuge weitgehend identisch, was sich auch in der internen Baureihenbezeichnung W 196 niederschlug, die zur Unterscheidung vom Grand-Prix-Rennwagen den Zusatz S (wie Sport) erhalten hatte. 

Neben der Karosserie, die beim Rennsportwagen reglementbedingt zweisitzig war und im Hinblick auf die Einsatzbedingungen über eine Beleuchtungsanlage verfügte, bestand der Hauptunterschied im Motor: Der W 196 S, der nicht an das Hubraumlimit der Formel 1 gebunden war, wurde von einer Dreiliter-Version des Reihenachtzylinders angetrieben und verfügte über Zylinderblöcke, die nicht aus Stahl, sondern aus Leichtmetall gefertigt waren. Außerdem wurde er nicht mit speziellem Rennkraftstoff auf Methanolbasis, sondern mit regulärem Superbenzin betrieben – ein wichtiger Aspekt, weil die Bestimmungen des Reglements handelsüblichen Treibstoff vorschrieben und Spezialkraftstoff bei Langstrecken-Straßenrennen ohnehin zusätzliche logistische Herausforderungen bedeutet hätte. Gegenüber der 2,5-Liter-Variante des Grand-Prix-Wagens hatte man die Hubraumvergrößerung durch eine größere Bohrung und einen längeren Hub erreicht, wodurch sich ein quadratisches Bohrungs/Hub-Maß ergab. Die Leistung des Achtzylinders, der wie beim Formel-1-Wagen aus zwei separaten Vierzylinderblöcken mit Mittelabgriff bestand, betrug 306 PS/225 kW bei 7500/min.

Der Rennsportwagen erhielt eine öffentlichkeitswirksam gewählte Typenbezeichnung, die an den erfolgreichen 300 SL von 1952 anknüpfte und zudem eine Nähe zu den Mercedes-Benz Serienfahrzeugen suggerierte. In einer Presseinformation vom 16. Januar 1954, die den neuen Rennsportwagen zu ersten Mal erwähnte und eine Beteiligung an den 24 Stunden von Le Mans in Aussicht stellte, hieß es dazu: „Der neue Typ trägt die Bezeichnung "300 SLR" und stellt die konstruktive Weiterentwicklung der bekannten Typenreihe "300", "300 S" und "300 SL" dar. (S = super, L = leicht) Die Hinzufügung des Buchstaben R (Racing) sagt aus, daß die Weiterentwicklung auf der Basis von Rennwagen erfolgte […]“.

Chassis und Fahrwerk wurden praktisch unverändert vom Formel-1-Rennwagen W 196 R übernommen, der Rennsportwagen hatte aber einen um 20 mm größeren Radstand. Ein mit rund 60 Kilogramm ausgesprochen leichter, zugleich aber sehr verwindungssteifer Gitterrohrrahmen trug Achsen, Antriebsstrang und Karosserie. An der Doppelquerlenker-Vorderachse war die bereits bei den Vorkriegs-Silberpfeilen bewährte Kombination aus unterschiedlich langen Trapezlenkern mit einer Drehstabfederung verknüpft, und als Hinterachse diente eine Eingelenk-Pendelachse. Eine ähnliche Konstruktion war auch schon bei dem verbesserten, für die Saison 1953 vorgesehenen 300 SL Rennsportwagen montiert, aber nicht zum Renneinsatz gekommen. Neu waren die auch beim Grand-Prix-Rennwagen verwendeten innenliegenden Bremstrommeln, die durch ihre Position besonders groß dimensioniert werden konnten und zudem eine Reduzierung der ungefederten Massen ermöglichten.

Zunächst als Coupé konstruiert und bereits 1954 zur Teilnahme an der Mille Miglia und den 24 Stunden von Le Mans vorgesehen, wurde die – bis auf Feinabstimmung und Erprobung praktisch abgeschlossene – Entwicklung des 300 SLR im Frühjahr 1954 zurückgestellt, um alle verfügbaren Kapazitäten auf den neuen Formel-1-Rennwagen zu richten, der zum vierten Saisonrennen Anfang Juli 1954 endlich an den Start gehen sollte. So erhielt der 300 SLR seinen letzten Schliff erst ab dem Spätsommer 1954 nach dem erfolgreichen Anlauf der Formel-1-Saison. In der Zwischenzeit hatten die von Rennleiter Neubauer befragten Fahrer sich vor allem wegen der erwarteten Lärmentwicklung im Cockpit mehrheitlich für einen offenen Rennwagen anstelle des ursprünglich vorgesehenen Coupés ausgesprochen, und so trat bei der Sportwagen-Weltmeisterschaft 1955 zunächst nur die offene Version in Erscheinung. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte der 300 SLR Anfang September 1954 auf dem Autodrom in Monza, wo er im Umfeld des Großen Preises von Italien Probefahrten unter Rennbedingungen absolvierte.

Sein hohes Leistungspotenzial sowie seine unübertroffene Standfestigkeit und Zuverlässigkeit machten den 300 SLR seinen Konkurrenten weit überlegen, was er durch Siege bei der Mille Miglia, beim Eifelrennen, beim Großen Preis von Schweden, bei der Tourist Trophy in Irland und der Targa Florio auf Sizilien sowie durch den Gewinn der Sportwagen-Weltmeisterschaft unter Beweis stellte. Besonders spektakulär war der Doppelsieg bei der Mille Miglia 1955: Stirling Moss und Beifahrer Denis Jenkinson siegten mit der Startnummer 722 nach 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden mit der bis heute unübertroffenen Durchschnittsgeschwindigkeit von 157,65 km/h, und Formel-1-Weltmeister Juan Manuel Fangio (Startnummer 658), der die 1000 Meilen ohne Copilot absolvierte, wurde Zweiter.

Die einzigartige Erfolgsbilanz des 300 SLR war aber auch überschattet von einem schweren Unfall beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans, der bis heute größten Tragödie in der Geschichte des Rennsports. Der französische Gastfahrer Pierre Levegh, der bereits 1952 durch sein Durchhaltevermögen bei dem legendären 24-Stunden-Rennen überzeugt hatte, prallte am 11. Juni 1955, knapp zwei Stunden nach Rennbeginn, infolge eines unvermittelten und völlig unvorhersehbaren Fahrmanövers des Briten Mike Hawthorn auf den ausweichenden Austin-Healey von Hawthorns Landsmann Lance Macklin. Bei dem unvermeidbaren Aufprall wurde Leveghs SLR in Richtung der Zuschauertribüne katapultiert, wo er auseinanderbrach und in Brand geriet. Dieser unverschuldete Unfall kostete nicht nur Pierre Levegh, sondern auch 83 Zuschauer das Leben. Die Rennleitung ließ das Rennen trotz des Unfalls fortsetzen, der Daimler-Benz Vorstand entschied jedoch kurz nach Mitternacht, die beiden verbliebenen SLR der Fahrerteams Fangio/Moss und Kling/Simon, die zu diesem Zeitpunkt in Führung lagen, aus Respekt vor den Opfern aus dem Rennen zu nehmen.

Bei den 24 Stunden von Le Mans und dem Großen Preis von Schweden, einem Sportwagenrennen im August 1955 außerhalb der WM-Wertung, war der 300 SLR mit einer Luftbremse ausgerüstet – einer auf der Heckpartie in Höhe des hinteren Radlaufs montierten hinten angeschlagenen Klappe, die vom Fahrer über einen Handhebel hydraulisch aufgestellt werden konnte und durch den erheblich vergrößerten Luftwiderstand eine deutlich erhöhte Verzögerung ermöglichte. Ein willkommener Nebeneffekt war die stärkere Belastung der Hinterachse, die dem beim Bremsen eintretenden Eintauchen des Vorderwagens entgegenwirkte.

Auf dem Höhepunkt des Erfolgs – nach dem Gewinn der Formel-1-Weltmeisterschaft, der mit dem 300 SLR errungenen Konstrukteurswertung in der Sportwagen-Weltmeisterschaft, der Rallye-Europameisterschaft und der Amerikanischen Sportwagen-Weltmeisterschaft der Kategorie D – verkündete Daimler-Benz am 22. Oktober 1955 im Rahmen einer Siegesfeier zum Saisonabschluss das Ende seines Motorsport-Engagements. Auch wenn dieser Abschied in der Öffentlichkeit immer wieder mit dem Unfall in Le Mans in Verbindung gebracht wird, lag der tatsächliche – in den Archivakten zweifelsfrei dokumentierte – Grund für den Ausstieg in der Absicht, dringend benötigte, bislang durch die Rennabteilung gebundene Ressourcen künftig für die Serienfahrzeugentwicklung zu nutzen.

Die Entscheidung für den Ausstieg aus der Formel 1 hatte der Vorstand bereits im Frühjahr 1955 getroffen, und der Beschluss für das Ende des Engagements in der Sportwagen-Weltmeisterschaft fiel in der Vorstandssitzung vom 11. Oktober – nur fünf Tage vor der Targa Florio, dem letzten Saisonrennen der Sportwagen-WM, das das Mercedes-Benz Team für den beabsichtigten Titelgewinn unbedingt mit einem Sieg beenden musste. Zudem durfte das in der WM führende Ferrari-Team, das in der Saison zwei Läufe mehr gefahren war als Mercedes-Benz, auf Sizilien nicht Zweiter werden. Vor diesem Hintergrund vereinbarte der Vorstand Stillschweigen über seine Entscheidung, um die Motivation des bereits auf Sizilien weilenden Rennteams nicht zu beeinträchtigen. Die Targa Florio endete mit einem Doppelsieg für Mercedes-Benz und dem Gewinn der Weltmeisterschaft mit zwei Punkten Vorsprung.

Eine für die Saison 1956 vorgesehene verbesserte Version des 300 SLR mit Schaltsaugrohr sowie umfassend gewichtsreduzierten Aggregaten und Komponenten wurde in einem einzelnen Exemplar fertiggestellt. Ebenfalls aus Gründen der Gewichtseinsparung hatte das Fahrzeug außenliegende Bremstrommeln an den Vorderrädern erhalten. Gegenüber den bei der Targa Florio eingesetzten Wagen ergab sich insgesamt ein Mindergewicht von gut 83 Kilogramm. Wegen des im Oktober 1955 verkündeten Rückzugs vom Motorsport kam das Einzelstück– wie die beiden im Sommer 1955 fertiggestellten Coupés – jedoch nicht mehr zum Renneinsatz.

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