Mercedes-Benz 300 SE (W 112), 1963 - 1965

Mercedes-Benz 300 SE (W 112), 1963 - 1965

Obwohl Eugen Böhringer mit dem 220 SE noch die Rallye-Europameisterschaftssaison 1962 mit dem Titel für sich und Mercedes-Benz hatte krönen können – seinem ersten und dem nach 1960 zweiten für die „Heckflosse“ – wiesen die Tendenzen der Meisterschaft für die teilnehmenden Fahrzeuge klar in Richtung niedrigerer Leistungsgewichte. Kompakte Zweitürer wie Saab 96, Volvo 122 S, Ford Cortina GT und vor allem die revolutionären Mini Cooper schickten sich an, die führende Rolle im internationalen Rallyesport zu übernehmen.

Natürlich wollte man in Stuttgart die hervorragenden Erfolge der 220 SE Limousinen fortsetzen und entschloss sich dazu, bei unveränderter Standfestigkeit wenigstens in Sachen Motorleistung und Fahrwerksqualitäten den Wettbewerbern klar überlegen zu bleiben. Statt des 220 SE sollte ab der neuen Saison die Spitzenlimousine unter den „Heckflossen-Mercedes“, der deutlich leistungsstärkere 300 SE (W 112), in der Rallye-Europameisterschaft für Furore sorgen.

Während rein äußerlich zwischen dem bisherigen und dem neuen Einsatzfahrzeug kaum Unterschiede auszumachen waren – vor allem, da der zusätzliche Chromschmuck des Topmodells aus Gewichtsgründen größtenteils entfernt worden war –, gab es unter der Blechhaut eine Fülle von Veränderungen, die zum Teil der anderen Spezifikation des Serienfahrzeugs, aber auch speziell dem sportlichen Einsatzzweck geschuldet waren. 

Herzstück des 300 SE war fraglos sein Reihensechszylinder M 189 mit 3 Liter Hubraum. Zwar war die Grundkonstruktion des Triebwerks bereits fast ein Jahrzehnt alt, aber mit dem Aluminiumguss-Kurbelgehäuse, einer siebenfach gelagerten Kurbelwelle sowie einer oben liegenden, kettengetriebenen Nockenwelle und natürlich der Benzineinspritzung war es alles andere als technisch überholt. Obwohl der Motor konstruktionsbedingt gewissen Einschränkungen unterlag und kaum mehr Möglichkeiten für tiefgreifende Weiterentwicklungsmaßnahmen bot, stellte er doch ein ebenso zuverlässiges wie leistungsstarkes Aggregat dar, mit dem man getrost den Attacken der neuen Fahrzeuggeneration im Rallyesport begegnen konnte.

Intensive Feinarbeit an den beweglichen Bauteilen des Sechszylinders und die Verwendung jener Benzin-Direkteinspritzung, die bei Mercedes-Benz sonst nur im 300 SL (W 198) und 300 S (W 188) zum Einsatz gekommen war, hatten für ein deutliches Leistungsplus gegenüber dem Serienfahrzeug gesorgt. Während dieses 1963 noch mit 118 kW/160 PS vorliebnehmen musste, stellte der 3-Liter-Motor in Rallyeausführung in seinem ersten Einsatzjahr etwa 140 kW/190 PS bereit.

Ebenso standfest wie das Triebwerk und deshalb genauso gut im Wettbewerb einsetzbar präsentierte sich die Kraftübertragung der Limousine. Im Gegensatz zur Serienausführung war das 300 SE Rallyefahrzeug ausschließlich mit einem mechanischen 4-Gang-Getriebe ausgestattet, das per Mittelschaltung bedient wurde. Es wurde den Erfordernissen im Rallyeeinsatz wesentlich besser gerecht als das im Serienmodell installierte Mercedes-eigene Automatikgetriebe, das nur auf speziellen Kundenwunsch gegen die mechanische Schaltbox ausgetauscht wurde. Im weiteren Verlauf seiner Rallyesportkarriere profitierte der 300 SE auch vom Einbau eines 5-Gang-Schaltgetriebes, das noch besser auf die Leistungscharakteristik des Sechszylinders abzustimmen war.

Mit seiner selbsttragenden Karosserie, die auf einer extrem robusten Rahmenbodenanlage ruhte, widerstand der 300 SE auch härtesten Belastungen des Rallyeeinsatzes. Gleiches galt für die Auslegung der Radaufhängungen. Vorne kam eine Doppelquerlenkerachse zum Einsatz, die wie im Serienfahrzeug mit Luftfederbälgen und außen liegenden Teleskopstoßdämpfern ausgerüstet war. Die Luftfederung bot gegenüber herkömmlichen Stahlfederungen den großen Vorteil, dass die Bodenfreiheit der Karosserie je nach Streckenbeschaffenheit niedriger oder höher eingestellt werden konnte. Für eine Begrenzung der Seitenneigung in schnell genommenen Kurven sorgte ein Drehstabstabilisator.

Als Hinterradaufhängung fungierte die bei Mercedes-Benz schon traditionelle Eingelenk-Pendelachse, die gleichfalls mit Luftfederbälgen und außen liegenden Teleskopstoßdämpfern ausgerüstet war. Eine zusätzliche stählerne Ausgleichsfeder sorgte auch bei hohem Tempo für ein jederzeit beherrschbares Fahrverhalten der trotz der Verwendung von Plexiglasscheiben und massiv abgespeckter Innenausstattung nahezu 1500 Kilogramm schweren Limousine. Federbälge und Stoßdämpfer an Vorder- und Hinterachse kamen entsprechend dem motorsportlichen Einsatzzweck in härter abgestimmter Ausführung zum Einbau.

Dem Serienstandard entsprach hingegen die Vierrad-Scheibenbremsanlage des 300 SE Rallyefahrzeugs. Sofern hier abhängig von den Einsatzbedingungen nicht die serienmäßigen 13-Zoll-Räder, sondern – was mitunter der Fall war – solche mit 14 oder 15 Zoll Durchmesser verwendet wurden, brachte der Einbau einer Rennbremsanlage des britischen Herstellers Dunlop weitere Verzögerungsreserven.

1963 umfasste die Rallye-Europameisterschaft insgesamt sechs Läufe, bei denen nicht nur der 300 SE, sondern auch das Vorjahresmodell 220 SE zum Einsatz kam. Einen ersten Gesamtsieg für Mercedes-Benz konnte der 300 SE bei der materialmordenden Rallye Akropolis unter der Besatzung Böhringer/Knoll erringen. Einen weiteren gab es bei der Deutschland Rallye zu vermelden, als das Team Böhringer/Kaiser sich gegen die Markenkollegen Glemser/Baumgart auf einem 220 SE durchsetzen konnte.

Insgesamt zeigte die Saison jedoch, dass sich bei der Mehrheit der Europameisterschaftsläufe die kompakteren Fahrzeuge wie Saab 96, Volvo 122 S, Mini Cooper und Alfa Romeo Giulia SZ auf den vorderen Rängen platzieren konnten. Trotz mancher beachtlicher Resultate auch im Folgejahr lief die Zeit, in der man mit großen viertürigen Limousinen im Rallyesport Lorbeeren hatte ernten können, unaufhaltsam ab. Bei für Tourenwagen ausgeschriebenen Langstreckenrennen wie den 24 Stunden von Spa-Francorchamps oder dem 6-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring blieb der 300 SE jedoch ein sehr erfolgreicher Konkurrent und holte 1964 bei beiden Veranstaltungen, wie auch beim Großen Preis von Macao, den Sieg im Gesamtklassement.

Noch spektakulärer waren die beeindruckenden Erfolge, die der 300 SE dem Mercedes-Benz Team in Argentinien bescherte. Beim Großen Straßenpreis von Argentinien für Tourenwagen belegte der 300 SE 1963 die Plätze 1, 2 und 4 (auf Platz 3 ein 220 SE) und erzielte im Folgejahr einen Dreifachsieg. Damit konnte Mercedes-Benz bei diesem äußerst strapaziösen Langstreckenrennen über mehr als 4500 km vier Mal in Folge einen Sieg verbuchen: 1961 und 1962 mit dem 220 SE, 1963 und 1964 mit dem 300 SE.

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