Mercedes-Benz 230 SL (W 113), 1963

Mercedes-Benz 230 SL (W 113), 1963

Nach dem Gewinn der Rallye-Europameisterschaft 1962 durch Eugen Böhringer, der sich mit seinem vom Werk vorbereiteten Mercedes-Benz 220 SE gegen harte Konkurrenz hatte durchsetzen können, stand die Frage im Raum, mit welchem Einsatzfahrzeug in Zukunft die führende Rolle von Mercedes-Benz im internationalen Rallyegeschehen behauptet werden konnte. Nicht zuletzt hatte Böhringer selbst größtes Interesse daran, seine erfolgreiche Fahrerkarriere auf einem erfolgversprechenden Wagen fortzusetzen.

Klar war, dass die Tendenzen der Meisterschaft in Richtung niedrigerer Leistungsgewichte der teilnehmenden Fahrzeuge gingen. Kompakte Zweitürer wie Saab 96, Volvo 122 S, Ford Cortina GT und vor allem die revolutionären Mini Cooper schickten sich an, trotz zum Teil wesentlich geringerer Motorleistung Fahrzeuge vom Zuschnitt eines 220 SE bei Rallye-Veranstaltungen ernsthaft herauszufordern.

In den Entscheidungsgremien der Daimler-Benz AG entschloss man sich dazu, der sich abzeichnenden Veränderung der Wettbewerbssituation mehrgleisig zu begegnen. Zum einen sollte ab der neuen Saison die Spitzenlimousine unter den „Heckflossen-Mercedes“, der deutlich leistungsstärkere 300 SE (W 112), in der Rallye-Europameisterschaft für Furore sorgen und bei unveränderter Standfestigkeit, wenn schon nicht in der Handlichkeit, so doch wenigstens in Sachen Motorleistung und Fahrwerksqualitäten den Kontrahenten klar überlegen bleiben.

Zum anderen gab man Böhringers beharrlichem Drängen nach, auch mit einem deutlich leichtfüßigeren Auto im Rallyesport anzutreten. Ganz konkret schwebte ihm ein Einsatz des brandneuen Mercedes-Benz 230 SL (W 113) vor, dessen Weltpremiere auf dem Genfer Automobilsalon im März 1963 erst noch bevorstand. Ein Motiv für diesen Schritt mag in der Absicht gelegen haben, das sportliche Profil des neuen SL zu schärfen – schließlich kam dem später häufig als „Pagoden-SL“ titulierten Sportwagen die schwierige Aufgabe zu, die Nachfolge sowohl des 300 SL wie des 190 SL anzutreten – zweier SL-Modelle, deren Charakter kaum unterschiedlicher hätte sein können.

Böhringer hatte speziell die international sehr beachtete Marathonprüfung „Spa – Sofia – Liège“ im Blick, die er 1962 auf einer 220 SE Limousine als Gesamtsieger beendet hatte. Die über fünf Tage und mehr als 6500 Kilometer führende Nonstop-Rallye hatte in jenem Jahr noch als Lauf zur Rallye-Europameisterschaft gezählt, wurde aber 1963 als Einzelveranstaltung ohne Prädikatsrang fortgeführt.

Dass Böhringer den 230 SL als ideales Einsatzfahrzeug für die Mensch und Maschine extrem fordernde Langstreckenfahrt betrachtete, hatte jenseits aller Marketingüberlegungen gute Gründe. Der „Pagoden-SL“ verband Mercedes-typische Robustheit mit exzellenter Handlichkeit und sportlichem Leistungsvermögen seines Sechszylinder-Triebwerks. Zudem brachte er ein im Vergleich zu den beiden Limousinen 220 SE und 300 SE um 150 bis 250 Kilogramm niedrigeres Einsatzgewicht auf die Waage. Für den neuen Sportwagen sprach also ein ganzer Katalog von Vorzügen, die Böhringer bei der zu 90 % über anspruchsvolles Terrain führenden Rallye, deren Start auf Ende August terminiert war, für sich und Mercedes-Benz zur Geltung bringen wollte. 

Da der 230 SL, dessen Deutschlandpremiere für die im September stattfindende Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt vorgesehen war, erst Anfang November als GT-Fahrzeug homologiert war, musste er nach dem Reglement der Sportwagen-Klasse vorbereitet werden. Dies hatte trotz potenziell stärkerer Konkurrenz auch handfeste Vorteile.

Zum Beispiel beim Antriebsaggregat: Der gut 2,3 Liter Hubraum aufweisende Sechszylinder-Reihenmotor konnte mit einer anderen Kurbelwelle ausgerüstet werden, die den Hub von 72,8 auf 78,8 Millimeter verlängerte und den Gesamthubraum entsprechend auf knapp 2560 cm³ erhöhte. Parallel dazu wurden die Teller der Ein- und Auslassventile im Durchmesser um 2 Millimeter vergrößert. Um die thermische Gesundheit des Triebwerks auch unter härtesten Bedingungen zu gewährleisten, kam zusätzlich ein Ölkühler zum Einbau. Genaue Leistungsangaben wurden seinerzeit zwar nicht gemacht, aber Schätzungen zufolge stellte der überarbeitete Sechszylinder beim „Spa – Sofia – Liège“-Einsatz ein Leistungsplus von etwa 10 bis 15 % gegenüber der nominell mit 110 kW/150 PS angegebenen Serienversion bereit.

Übertragen wurde diese Kraft auf ein von der „Heckflossen-Limousine“ 220 SE übernommenes 4-Gang-Getriebe, das über geeignetere Gangabstufungen für den Einsatz bei der Marathonfahrt verfügte.

Entsprechend dem Geist des damaligen Rallyesports, der mit seriennahen Fahrzeugen ausgetragen wurde und eher den Charakter sportlicher Zuverlässigkeitsfahrten trug, präsentierte sich das Chassis des 230 SL nur unwesentlich auf den Einsatzzweck hin modifiziert. Vorne kam eine Doppelquerlenkerachse mit Schraubenfedern und Teleskopstoßdämpfern zum Einsatz. Für eine Begrenzung der Seitenneigung in schnell genommenen Kurven sorgte ein Drehstabstabilisator. Als Hinterradaufhängung fungierte die bei Mercedes-Benz schon traditionelle Eingelenk-Pendelachse, die gleichfalls mit Schraubenfedern, Teleskopstoßdämpfern sowie einem Drehstabstabilisator ausgerüstet war und über eine zusätzliche Ausgleichsfeder verfügte – eine Auslegung, die auch bei hohem Tempo für ein ausgewogenes Fahrverhalten sorgte. Weitestgehend dem Serienstandard entsprach ferner die Bremsanlage mit vorderen Scheiben und hinteren Trommelbremsen.

Eine Spezialität war die Ausrüstung des 230 SL Rallyefahrzeugs mit der besonders widerstandsfähigen, strafferen „Tropenfederung“, die auf den größtenteils unbefestigten Straßen ein Durchschlagen verhindern und die tief liegenden Bauteile des Wagens vor Beschädigung schützen sollte. Wie es sich schon bei der Rallyeversion der 220 SE Limousine bewährt hatte, konnte auch der 230 SL je nach Beschaffenheit der Fahrbahnoberfläche mit kleineren oder größeren Radformaten ausgerüstet werden. Neben den serienmäßigen 14-Zoll-Rädern standen auch 13- und 15-Zöller bereit.

Besonders harter Beanspruchung angepasst zeigte sich der Karosserieaufbau. Um bestmögliche Verwindungssteifigkeit herzustellen, aber auch aus Gründen der Sicherheit und des Komforts für die aufs Äußerste strapazierte Fahrerbesatzung, wurde die Rallyeausführung des 230 SL, der ja eigentlich ein Cabriolet bzw. Roadster war, obligatorisch mit aufgeschraubtem Blechhardtop versehen. Umfangreiche Verstärkungsmaßnahmen wurden im Bereich der Stoßdämpferbefestigungen vorne und hinten sowie der Seitenabstützung der Hinterachse vorgenommen. Am Unterboden kamen fast über die ganze Fahrzeuglänge stabile Schutzbleche zum Einbau, die alle freiliegenden Technikkomponenten vor direktem Kontakt mit der Fahrbahnoberfläche schützten. Dies galt auch für den Tank, dessen Fassungsvermögen speziell auf die Erfordernisse der Rallye „Spa – Sofia – Liège“ abgestimmt war und 100 statt wie im Serienpendant 65 Liter betrug. Um die unterschiedlichen Radgrößen aufnehmen zu können, wurden die Radläufe an den Kotflügeln entsprechend modifiziert.

Der erhebliche Aufwand, den man in der Mercedes-Benz Sportabteilung unter Karl Kling getrieben hatte, um aus dem 230 SL ein siegfähiges Rallyefahrzeug zu machen, lohnte sich. Von den 129 genannten Fahrzeugen, die am 27. August 1963 im belgischen Heilbad Spa an den Start gegangen waren, sahen vier Tage später nur 22 das Ziel in Lüttich. Eine Fülle technischer Defekte und zahlreiche Unfälle hatten für diese nachhaltige Dezimierung des Teilnehmerfeldes gesorgt. Für Mercedes-Benz gab es jedoch Anlass zum Jubel: Tatsächlich schafften es Eugen Böhringer und sein Copilot Klaus Kaiser auf ihrem 230 SL, die berüchtigte Marathonprüfung mit dem weitaus kleinsten Strafzeitenkonto überlegen für sich zu entscheiden.

Ein sensationeller Erfolg, der dank perfekter Vorbereitung und überragender Zuverlässigkeit des gewählten Einsatzfahrzeugs sowie einer Klasseleistung von Böhringer und seines Beifahrers zustande kam.

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