Mercedes 1,5-Liter-Rennwagen, 1922

Mercedes 1,5-Liter-Rennwagen, 1922

Der von wichtigen europäischen Automobilherstellern, darunter auch die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG), im Nachgang zum Grand Prix de l’A.C.F. 1908 vertraglich festgelegte Boykott bedeutender Rennveranstaltungen hatte der bis dahin kaum beachteten Kategorie kleinvolumiger Rennwagen der Voiturette-Klasse enormen Auftrieb verliehen. Neue Marken wie etwa Bugatti und innovative technische Lösungen für Antriebsaggregate mit kleinem Hubraum belebten die Szenerie und sorgten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs dafür, dass sich der Leistungsrückstand der Voiturette-Fahrzeuge während der Rennsportabstinenz der Großen deutlich verringerte.

Nach dem kriegsbedingten Ruhen sämtlicher Rennsportaktivitäten in Europa und einer nach dem Friedensschluss 1918 einsetzenden Erholungs- und Orientierungsphase richteten die Hersteller mit Beginn der 1920er-Jahre ihren Blick wieder auf die Möglichkeiten eines Rennsportengagements. Damit sollte nicht nur die technische Entwicklung im Automobilbau vorangebracht, sondern der Öffentlichkeit auch die Qualität der einzelnen Produkte demonstriert werden.

Vor allem in England, Italien und Frankreich hatten Veranstaltungen, an denen Voiturette-Rennwagen teilnahmen, große Popularität erlangt, und so war es unter Berücksichtigung der eigenen Exportinteressen nur folgerichtig, dass man auch seitens der DMG Ende 1921 daran dachte, ein solches Fahrzeug zu entwickeln. Mit dem Serientyp 6/20 PS, der im September als erste Pkw-Neuentwicklung der DMG nach dem Ersten Weltkrieg auf der Deutschen Automobil-Ausstellung in Berlin debütiert hatte, stand bereits eine geeignete technische Ausgangsbasis zur Verfügung.

Der 6/20 PS und sein zeitgleich präsentiertes Schwestermodell 10/35 PS wiesen eine bahnbrechende Neuerung auf, die der DMG und ihren Produkten Weltruhm einbringen sollte: die von Paul Daimler initiierte, aus der Flugmotorenentwicklung stammende Kompressor-Aufladung. Sowohl der 1,6-Liter-Motor des zunächst 6/20 PS genannten, mit der Produktionsaufnahme Ende 1922 aber in 6/25 PS umgetauften Serienwagens, wie auch das 2,6-Liter-Triebwerk des Typ 10/35 PS, der zum Typ 10/40 PS wurde, waren hochmodern konzipiert und warteten mit einer oben liegenden Nockenwelle auf, die von einer Königswelle angetrieben wurde.

Da das technische Reglement der Voiturette-Klasse eine Hubraumbegrenzung auf 1500 cm³ vorsah, beschloss man bei der DMG, das 1,6-Liter-Ausgangstriebwerk für den Renneinsatz nicht einfach nur im Hubvolumen zu reduzieren, sondern direkt tiefgreifend zu überarbeiten, um das Potenzial der Konstruktion im Sinne optimaler Leistungsausbeute ausschöpfen zu können. Im gleichen Zug bekam das Triebwerk, dem damaligen Nomenklatursystem entsprechend, die neue Bezeichnung M 65134. Neben einer Veränderung des Bohrung-/Hub-Verhältnisses von 68 x 108 mm auf 65 x 113 mm und einem daraus resultierenden Gesamthubraum von 1499,87 cm³ war das Kernstück der Weiterentwicklung ein neuer Zylinderkopf.

Mit zwei oben liegenden Nockenwellen, die über Tassenstößel je zwei in spitzem Winkel zueinander hängende Einlass- und Auslassventile pro Zylinder betätigte, und einer zentral angeordneten Zündkerze verkörperte die Konstruktion reinsten Hochleistungsmotorenbau. Darüber hinaus erforderte die dohc-Auslegung weitere Maßnahmen am Königswellenantrieb. Da statt einer nun zwei Nockenwellen anzutreiben waren, benutzte man zwei kurze Querwellen mit zusätzlichen Kegelrädern, um beide Nockenwellen in Rotation zu versetzen.

Der Kompressor, ein gegenüber dem 1,6-Liter-Serienmotor erheblich vergrößertes Roots-Drehkolbengebläse, wurde nicht vom Schwungrad angetrieben, sondern vom vorderen Kurbelwellenende aus und war senkrecht stehend eingebaut. Voluminöse Druckleitungen transportierten die komprimierte Ansaugluft zum druckdichten Einzelvergaser, einer Eigenentwicklung der DMG. Wenn der Fahrer das Gaspedal durchtrat, setzte er über eine einrückende Konuskupplung den Kompressor in Gang.

Die heute aufzufindenden Angaben über das Leistungsvermögen des 1,5-Liter-Renntriebwerks gehen weit auseinander. Das Werk gab 1922 eine Leistung von 40 PS/29 kW ohne und 65 PS/48 kW bei 4000/min mit Kompressor an. In der Literatur werden 45 PS/33 kW bei 4300/min ohne und 67 PS/49 kW bei 4500/min mit Kompressor genannt, während aktenkundige Prüfstandmessungen im Jahr 1948 offenbar deutlich höhere Werte ergaben: 54 PS/40 kW ohne und 79 PS/58 kW bei 4500/min mit Kompressor. 

Insgesamt entstanden bei der DMG 24 Exemplare dieses Motors, von denen bis auf drei, die in Rennboote eingebaut wurden, alle in Automobilen zum Einsatz kamen. Gleichgültig, wie leistungsstark der Vierzylinder tatsächlich war – das hier erstmals verwirklichte technische Grundkonzept war so modern und zukunftsträchtig, dass es bis in die 1950er-Jahre als Vorbild für alle folgenden Mercedes- und Mercedes-Benz Rennmotoren diente.

Ihren ersten Werkseinsatz absolvierten zwei der 1,5-Liter-Kompressor-Rennwagen im April 1922 bei der Targa Florio auf Sizilien. Beide verfügten über einen Radstand von 2740 mm und eine Spurweite von 1200 mm; zudem waren die Wagen mit einer Vierradbremse ausgerüstet. Die mit großem Tross angereiste Mercedes Rennmannschaft umfasste darüber hinaus zwei modifizierte Grand-Prix-Rennwagen von 1914 und zwei aktuelle 28/95 PS Rennsport-Tourenwagen, von denen einer ebenfalls mit einem Kompressor-aufgeladenen Motor ausgerüstet war. 

Leider verlief das Rennen auf dem äußerst anspruchsvollen Madonie-Kurs für die Werksmannschaft aus Untertürkheim nicht ganz wie erhofft. Als schnellster Mercedes Werksfahrer platzierte sich Max Sailer mit dem kompressorbestückten 28/95 PS auf Rang 6. Hinter Sailer belegte Christian Werner auf dem zweiten 28/95 PS Platz 8. Christian Lautenschlager und Otto Salzer, auf den Grand-Prix-Wagen von 1914 am Start, kamen auf den Rängen 10 und 13 ins Ziel. Von den beiden völlig neu entwickelten 1,5-Liter-Rennwagen mit Doppelnockenwellen-Kompressormotor bewältigte nur der von Paul Scheef die Renndistanz von 432 km. Im Endklassement platzierte sich Scheef als Zwanzigster. Der Italiener Fernando Minoia, der den zweiten der kleinen Kompressorwagen pilotierte, gab aus nicht nachvollziehbaren Gründen auf. Die „Allgemeine Automobil-Zeitung“ vom 28. Mai 1922 befand in einem von Max Sailer verfassten Artikel, dies sei „besonders deshalb ärgerlich, weil dem Wagen nichts fehlte; er wurde angedreht und hat die Reise vom Start bis nach Stuttgart anstandslos zurückgelegt.“

Sieger des Rennens wurde zwar ein Mercedes, allerdings ein privat gemeldeter 4,5-Liter-Grand-Prix-Rennwagen von 1914, der von Conte Giulio Masetti gefahren wurde und in der für Italien reservierten Rennfarbe Rot lackiert war.

Nach dem enttäuschenden Einstand der hochentwickelten 1,5-Liter-Kompressorwagen auf Sizilien war deren Rennkarriere noch nicht beendet. Abgesehen von Versuchen mit aerodynamisch optimierten Karosserien, für die eines der beiden Targa-Florio-Einsatzfahrzeuge verwendet wurde, kamen die beiden Wagen 1923 und 1924 bei verschiedenen Motorsportveranstaltungen zum Einsatz. Mit einem der beiden Wagen erzielte Rudolf Caracciola seine ersten Rennsiege auf Mercedes.

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