Mercedes 90 PS Rennwagen, 1904

Mercedes 90 PS Rennwagen, 1904

Nach dem nicht sehr glücklich verlaufenen Debüt der Mercedes-Simplex 90 PS „Special-Rennwagen“ bei der Fernfahrt Paris – Madrid und ihrer anschließenden Zerstörung durch den verheerenden Brand, der am Morgen des 10. Juni 1903 das Cannstatter Montagewerk der Daimler-Motoren-Gesellschaft samt mehr als 90 Fahrzeugen in Schutt und Asche gelegt hatte, stand die DMG vor der Herausforderung, für die Saison 1904 neue Hochleistungsrennwagen bauen zu müssen.

In technischer Hinsicht orientierte man sich sehr eng am Modell von 1903. Beibehalten wurde der großvolumige Vierzylinder mit hängenden Einlass- und stehenden Auslassventilen in ioe-Ventilanordnung. Betätigt wurden die hängenden Einlassventile durch Stößel und Kipphebel, während die in einer eigenen seitlichen Gusskammer stehenden Auslassventile direkt von einer unten liegenden, zahnradgetriebenen Nockenwelle bedient wurden. 

Das für die Epoche ungewöhnliche Charakteristikum der überquadratischen, also kurzhubigen Auslegung des Vierzylinders von 1903 wurde zwar ebenfalls beibehalten, in seiner Ausprägung jedoch ein wenig abgeschwächt. Statt 170 mm betrug das Bohrungsmaß für die Wagen des Jahrgangs 1904 jetzt nur noch 165 mm, woraus sich bei gleichbleibendem Hub von 140 mm der Gesamthubraum von 12.711 cm³ auf 11.974 cm³ reduzierte. Damit konnte die Bauhöhe des prominent im Fahrtwind stehenden Triebwerks im Sinne größerer Windschlüpfigkeit nach wie vor niedrig gehalten werden. Geändert präsentierte sich die Ventilsteuerung: Anstelle der einzelnen, auf der Auslassseite positionierten Nockenwelle, die Einlass- und Auslassventile steuerte, wies der Motor für die Saison 1904 nun zwei seitliche Nockenwellen auf: Die zusätzliche rechte Steuerwelle auf der Einlassseite betätigte neben der Abreißzündung über Stößel und Kipphebel die hängenden Einlassventile, während die linke Steuerwelle nun der Betätigung der stehenden Auslassventile sowie dem Antrieb von Zündmagnet und Wasserpumpe vorbehalten war. Dadurch gelang es, die Belastungen im Motor gleichmäßiger zu verteilen und die Wandstärken der Zylinder zu reduzieren, so dass das Mehrgewicht der zweiten Nockenwelle mehr als kompensiert werden konnte.

Eine weitere bedeutende Neuerung im 90 PS Rennwagen war übrigens die Einführung des fußbetätigten Gaspedals, das die bis dahin übliche Handverstellung der Motordrehzahl am Lenkrad endgültig ablöste. Platziert war das Gaspedal in der Mitte zwischen Kupplungs- und Bremspedal. Fahrwerkseitig gab es beim überarbeiteten Modell nur Detailveränderungen.

Trotz aller Maßnahmen blieb auch der überarbeiteten Version des 90 PS Mercedes Rennwagens zumindest bei Renneinsätzen der Durchbruch zum absoluten Ruhm verwehrt. Bei der Rennwoche von Nizza, die 1904 nach dem behördlichen Verbot des Bergrennens Nizza – La Turbie auf Meilen- und Kilometerrennen beschränkt war, mussten sich die Mercedes 90 PS den französischen Gobron-Brillié Rennwagen von Rigolly und Duray und zum Teil auch noch dem britischen Napier von Mark Mayhew geschlagen geben.

Bei dem prestigeträchtigen Gordon-Bennett-Rennen am 17. Juni 1904, das nach dem spektakulären Mercedes-Erfolg im Jahr zuvor auf einer Rundstrecke im Taunus ausgetragen wurde, trat für Deutschland neben zwei von Jenatzy und de Caters gesteuerten weißen Mercedes 90 PS auch ein Opel-Darracq Rennwagen mit Fritz Opel an. Damit war das Kontingent von maximal drei Rennwagen pro Nation für Deutschland erschöpft. Die DMG hatte aber noch einen Trumpf im Ärmel und setzte drei weitere Mercedes 90 PS ein, die bei ihrer österreichischen Tochtergesellschaft in Wiener Neustadt entstanden waren und in der schwarz-gelben Farbgebung antraten, die das Reglement des Coupe Internationale für Österreich definierte. Gesteuert wurden diese Boliden von Wilhelm Werner, Hermann Braun und John B. Warden.

Am Ende musste sich der Vorjahressieger, das belgische Rennfahreridol Camille Jenatzy, mit dem zweiten Platz hinter dem französischen Richard-Brasier-Fahrer Léon Théry begnügen. Baron de Caters landete hinter Jenatzy auf Platz 3, und die österreichischen Mercedes von Hermann Braun und Wilhelm Werner belegten die Plätze 5 und 11. Beobachter führten den entgangenen Sieg des Mercedes Rennwagens nicht zuletzt auf das Fehlen von Stoßdämpfern an den Radaufhängungen zurück. Der mit Stoßdämpfern ausgerüstete Richard-Brasier konnte bei den zu Teil schwierigen Straßenverhältnissen erkennbare Vorteile im Fahrverhalten für sich verbuchen.

Zuvor jedoch und auf gerader, ebener Strecke hatte der Mercedes 90 PS Wagen als Rekordfahrzeug seine Qualitäten bereits besser auszuspielen vermocht. So war es am 27. Januar 1904 dem schwerreichen US-Amerikaner William K. Vanderbilt in Daytona/Florida gelungen, mit 148,5 km/h einen neuen amerikanischen Rekord für die Meile mit fliegendem Start zu erzielen. Der unerschrockene belgische Baron Pierre de Caters stellte am 19. Mai mit dem 90 PS sogar einen absoluten Geschwindigkeitsweltrekord für Landfahrzeuge auf: Dabei erreichte er in Oostende ein Tempo von 156,5 km/h.

Im September 1904 kam es dann noch einmal zu einem Wettbewerb zwischen einem Cannstatter Mercedes 90 PS und seinem Pendant aus Wiener Neustadt. Beim sechsten Semmering-Rennen erzielte der österreichische Rennwagen aus dem Besitz von Theodor Dreher mit dem Vorjahressieger Hermann Braun am Steuer mit 8 Minuten und 11,6 Sekunden bzw. 73,2 km/h einen neuen Streckenrekord. Damit deklassierte er sein von Theodor Pöge gesteuertes Schwestermodell aus Cannstatter Produktion, das mit 8 Minuten und 38,6 Sekunden bzw. 69,4 km/h auf Platz 3 im Gesamtklassement fuhr. Semmering-Neuling Pöge hatte mit sich lösenden Kontaktstiften der magnetelektrischen Zündung zu kämpfen und fuhr daher zeitweise nur mit zwei Zylindern. Nach diesem Ausgang des Rennens musste Clarence Gray Dinsmore, der Besitzer des von Pöge gesteuerten Wagens, den Semmering-Wanderpreis für die beste Zeit aller Kategorien an Theodor Dreher übergeben.

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