Mercedes-Simplex 60 PS Gordon-Bennett-Rennwagen, 1903

Mercedes-Simplex 60 PS Gordon-Bennett-Rennwagen, 1903

Parallel zum Mercedes-Simplex 90 PS, der als reinrassiger Rennwagen konzipiert war, wurde für das Modelljahr 1903 mit dem Mercedes-Simplex 60 PS ein weiterer Hochleistungswagen entwickelt, der ebenfalls im Motorsport zum Einsatz kommen sollte und in dieser Funktion als eigentlicher Nachfolger des 40-PS-Modells von 1902 gelten kann. Wie dieser war er weniger kompromisslos auf Renneinsätze zugeschnitten und kam im Grundcharakter eher einem besonders leistungsfähigen Sportwagen nahe.

Der DMG-Motorenkonstrukteur Josef Brauner konstruierte ein neues Vierzylinder-Triebwerk, das in unterschiedlichen Versionen sowohl im 60- wie im 90-PS-Wagen eingesetzt wurde. Das für den 60 PS vorgesehene Aggregat wies einen Hubraum von 9,2 Litern auf, war mit Bohrungs-/Hub-Maßen von 140 x 150 mm gemäßigt langhubig ausgelegt und stellte eine Höchstleistung von 65 PS/48 kW bei 1060/min bereit.

Eine Neuerung und technische Besonderheit beider Motoren war die sogenannte ioe-Ventilanordnung (für „inlet over exhaust“), bei der die Einlassventile über den stehenden Auslassventilen hingen. Betätigt wurden die hängenden Einlassventile durch Stößel und Kipphebel, während die Auslassventile, die in einer eigenen Kammer seitlich am Zylinder stehend angeordnet waren, direkt von der unten liegenden, zahnradgetriebenen Nockenwelle geöffnet und geschlossen wurden. 

Den seinerzeit wegen des niedrigen Drehzahl- und Verdichtungsniveaus kaum ins Gewicht fallenden Nachteil des ungünstig geformten, mit schlechtem Wirkungsgrad aufwartenden Brennraums machte die hohe Reparaturfreundlichkeit der ioe-Konfiguration leicht wett. In der Frühzeit der Motorenentwicklung fiel es mit den vorhandenen Kenntnissen, Materialien und Instrumentarien schwer, den Verbrennungsablauf mit Blick auf möglicherweise entstehende Hitzenester zu kontrollieren. So hatte man vielfach mit Motorschäden durch verbrannte Auslassventile zu kämpfen. Die ioe-Ventilanordnung bot speziell bei Wettbewerbseinsätzen den Vorteil, schnelle Reparaturen zu ermöglichen.

Die sonstigen technischen Spezifikationen des Mercedes-Simplex 60 PS orientierten sich im Wesentlichen am Standard des 40-PS–Modells. Das stabile Rückgrat war nach wie vor ein querverstrebter Rahmen aus Pressstahl-Längsträgern mit U-Profil; zwei Starrachsen mit Halbelliptikfedern übernahmen die Radführung, wassergekühlte Bremsen an den Hinterrädern, der Getriebeabtriebswelle und den Zwischenwellen zum Kettenantrieb besorgten die Verzögerung. Zur nachhaltigen Verbesserung der Fahrstabilität wurde der Radstand des 60-PS-Wagens gegenüber dem 40-PS-Modell um stattliche 300 mm auf 2750 mm verlängert.

Wilhelm Maybach und Josef Brauner hatten mit dem Mercedes-Simplex 60 PS ein ebenso schnelles wie zuverlässiges Fahrzeug geschaffen, das vielfältige Qualitäten unter Beweis stellte. Sein Motorsportdebüt bei der Rennwoche von Nizza im April 1903 war von Erfolgen, aber auch von einem tragischen Unfall gekennzeichnet. Beim Bergrennen Nizza – La Turbie am 1. April verunglückte Eliot Zborowski auf dem neuen 60 PS tödlich, als er zu Beginn des Rennens die Beherrschung über seinen Wagen verlor und in voller Fahrt mit einer Felswand kollidierte – tragischerweise an nahezu der gleichen Stelle, an der drei Jahre zuvor Wilhelm Bauer mit tödlichem Ausgang verunfallt war. Offenbar war Zborowski mit einem Manschettenknopf am Gashebel auf dem Lenkrad hängengeblieben. Vor seinem tragischen Unfall hatten Otto Hieronimus, Wilhelm Werner und Henri Degrais ebenfalls auf Mercedes-Simplex 60 PS das Bergrennen absolviert, wobei Hieronimus mit 64,4 km/h einen neuen Streckenrekord aufstellte. Infolge des Unfalls verbot der Präfekt des Departements zunächst alle weiteren Rennen der Woche vom Nizza, gestattete aber schließlich Meilen- und Kilometer-Rennen sowie Rekordversuche auf der Promenade des Anglais am 7. April.

Dabei erzielte Hermann Braun auf dem 60-PS-Rennwagen eine Höchstgeschwindigkeit von 116,9 km/h und stellte damit einen Bestwert für Fahrzeuge mit Explosionsmotor auf. Hinter Braun platzierten sich auf den Rängen zwei bis sechs weitere fünf Mercedes-Simplex 60 PS. Schneller als Braun waren nur Léon Serpollet, der auf seinem stromlinienförmig verkleideten Dampfwagen Le Turpilleur („Torpedoboot“) mit 123,300 km/h über den fliegenden Kilometer zum dritten Mal den Coupe Rothschild gewann, und Hubert Le Blon, ebenfalls auf einem Dampfwagen von Serpollet. Auch bei dem in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Rennen Paris – Madrid, das von den französischen Behörden infolge zahlreicher Unfälle mit Todesfolge bereits nach 552 Kilometern in Bordeaux abgebrochen wurde, zeigten die 60-PS-Rennwagen eine sehr gute Leistung und deklassierten zum Teil sogar die erstmals eingesetzten 90-PS-Wagen. 

Zur Legende wurde der Mercedes-Simplex 60 PS dann jedoch im Juli 1903 beim Rennen um den Coupe International, landläufig als Gordon-Bennett-Rennen bekannt. Die seinerzeit wohl prestigeträchtigste Veranstaltung des noch jungen Automobilsports, die der in Europa lebende US-amerikanische Zeitungsverleger, Sportsmann und Automobilenthusiast James Gordon Bennett jr. ins Leben gerufen hatte, wurde 1903 nach dem Vorjahressieg des Briten Selwyn Francis Edge in Irland ausgetragen und erfreute sich zum ersten Mal einer breiten internationalen Beteiligung. Der Start der 60-PS-Wagen war nur eine Notlösung, denn die eigentlich für die Teilnahme vorgesehenen Mercedes-Simplex 90 PS Rennwagen waren in den frühen Morgenstunden des 10. Juni 1903, gerade einmal drei Wochen vor dem Rennen, bei einem verheerenden Brand der Werksanlagen in Cannstatt ein Raub der Flammen geworden. In aller Eile hatte die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) einige bereits ausgelieferte 60-PS-Modelle von ihren Kunden zurückerbeten und für das Rennen über beinahe 600 km vorbereitet.

Nach dem guten Abschneiden des 60 PS beim Rennen Paris – Madrid hatte Max von Duttenhofer, der Aufsichtsratsvorsitzende der DMG, schon vor dem Brand in Cannstatt dafür plädiert, das Gordon-Bennett-Rennen nicht mit drei 90-PS-Wagen zu beschicken, sondern eines der Fahrzeuge durch einen Mercedes-Simplex 60 PS zu ersetzen. Hierfür vorgesehen war das Fahrzeug des US-amerikanischen Millionärs und Automobilenthusiasten Clarence Gray Dinsmore. Nachdem Dinsmores 90-PS-Wagen aber verbrannt war und der Millionär nicht ohne Automobil auskommen wollte, bedurfte es aller Überzeugungskraft des Frankfurter Bankiers und späteren DMG-Verkaufsdirektors Robert Katzenstein, Dinsmore zu motivieren, seinen 60 PS dennoch zur Verfügung zu stellen. Dies gelang schließlich nur dadurch, dass Katzenstein seinen eigenen 40-PS-Wagen im Austausch bereitstellte.

Dass der Belgier Camille Jenatzy, der wegen seines roten Barts und seines rasanten Fahrstils „roter Teufel“ genannt wurde,auf dem Wagen von Dinsmore tatsächlich den Sieg holte, war angesichts der schwierigen Ausgangslage eine Sensation. Die beiden anderen 60 PS wurden von Baron Pierre de Caters und Foxhall Keene gesteuert; beide Fahrer waren aber nicht annähernd so erfolgreich wie der „rote Teufel“. Am Ende bescherte die Kombination aus Camille Jenatzy und dem Mercedes-Simplex 60 PS der DMG und der noch jungen Marke Mercedes ihren ersten großen internationalen Rennsieg. Der Erfolg Jenatzys, der vom Kaiserlichen Automobil-Club gemeldet worden war und das Rennen für Deutschland bestritten hatte, führte reglementbedingt dazu, dass das Gordon-Bennett-Rennen 1904 in Deutschland stattfand. Der Siegerwagen war nach der Rückgabe an Dinsmore auch weiterhin im Motorsport aktiv: Mit Wilhelm Werner am Steuer erzielte er bei dem zum fünften Mal veranstalteten Semmering-Rennen mit 9 Minuten und 4,2 Sekunden bzw. 66,2 km/h den zweiten Platz im Gesamtklassement. Dinsmore hatte aber noch einen zweiten 60 PS gemeldet, der mit Hermann Braun an den Start ging. Braun stellte mit 8 Minuten und 47,6 Sekunden bzw. 68,2 km/h einen neuen Streckenrekord auf und siegte im Gesamtklassement. Dinsmore konnte damit den im Vorjahr gewonnenen Wanderpreis für die beste Zeit aller Kategorien verteidigen.

Die „Allgemeine Automobil-Zeitung“ vom 27. September 1903 kommentierte diese Leistung wie folgt: „Daß die Mercedes-Wagen allererste Classe sind, haben sie im bedeutendsten Rennen des Jahres bewiesen, indem Jenatzy auf einem Mercedes-Wagen, derselbe, der im Semmering-Rennen Zweiter wurde, das Gordon Bennett-Rennen für Deutschland gewann. Und ohne den Fahrern im Semmering-Rennen nahetreten zu wollen, müssen wir doch sagen, daß Braun und Werner als Fahrer, was Muth, Kaltblütigkeit, Renntaktik und Behandlung des Wagens anlangt, eine Classe für sich bilden. Nur Hieronimus darf ihnen zugezählt werden. So beziehen denn die Cracks des Mercedes-Stalles mit neuem Lorbeer geschmückt die Winterquartiere.“ Auch wenn der 60-PS-Wagen seinem größeren Bruder in mancher Hinsicht ebenbürtig war, war seine Motorsportkarriere nur von kurzer Dauer. 1904 stand bereits ein weiterentwickeltes 90-PS-Modell zur Verfügung, und 1905 erreichte das Leistungsniveau der Mercedes-Boliden sogar schon 120 PS.

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